Vorwort
Denken Sie einmal nach, wie viele erfolgreiche Menschen mit Behinderung Ihnen spontan in den Sinn kommen, egal ob aus Politik, Sport, Kultur, Wirtschaft oder Wissenschaft – und unabhängig davon, ob diese Menschen noch leben oder schon verstorben sind. Ich war neugierig, was den Deutschen dazu einfällt, und gab eine repräsentative Umfrage bei dem Institut für Demoskopie Allensbach in Auftrag, die im Februar 2021 durchgeführt wurde. Die Befragten wurden gebeten, bis zu drei Personen zu nennen.
35 Prozent der Befragten in Deutschland fiel keine einzige Person ein, weitere 21 Prozent nannten immerhin eine Person. Nur 43 Prozent warteten mit zwei oder drei Namen auf. Am häufigsten wurde der CDU-Politiker und Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble genannt, der im Rollstuhl sitzt. Nach Schäuble gaben die Befragten u.a. Stephen Hawking, Andrea Bocelli und Stevie Wonder an. Die gleiche Frage ließ ich in den USA von dem Institut Ipsos MORI stellen: 51 Prozent der Amerikaner konnten keine einzige erfolgreiche Person mit Behinderung benennen. 21 Prozent fiel nur ein einziger Name ein, und lediglich 28 Prozent konnten zwei oder mehr Persönlichkeiten mit Handicaps nennen. Am häufigsten wurde von den Amerikanern Stephen Hawking genannt, es folgten Nennungen von Michael J. Fox, Stevie Wonder, Franklin D. Roosevelt und Helen Keller.
Dass ich ein Buch zu diesem Thema geschrieben habe, hat einen persönlichen Hintergrund: Kurz nach meinem 61. Geburtstag bekam ich bei einer Routineuntersuchung beim Augenarzt einen Befund, mit dem ich nicht gerechnet hatte – epiretinale Gliose. Ich leide also an einer Netzhautstörung, bei der sich eine Membran oder ein Häutchen auf der Oberfläche des Netzhautmittelpunkts (Makula) gebildet hat. Auf dem rechten Auge, so der Arzt, sei die Krankheit fortgeschritten, aber auch das linke Auge sei betroffen. Im Extremfall werde die Erkrankung dazu führen, dass ich nicht mehr lesen könne, auch nicht mit der stärksten Brille der Welt. Jetzt müsse man noch nicht operieren, aber irgendwann werde das vermutlich notwendig werden. Auf meine Frage nach den Erfolgsaussichten erwiderte der Arzt: »Die Wahrscheinlichkeit, dass es gleich bleibt und keine Besserung eintritt, liegt bei einem Drittel, die Wahrscheinlichkeit, dass es durch die Operation besser wird, ebenfalls bei einem Drittel, und die Wahrscheinlichkeit, dass es schlechter wird, liegt auch bei einem Drittel.«
Ich konsultierte danach mehrere andere Spezialisten und entschied mich schließlich für eine Professorin an der Charité in Berlin. In den beiden folgenden Jahren war ich regelmäßig zur Untersuchung. Ich merkte, dass ich selbst mit meiner Brille nur noch mit dem linken Auge lesen konnte. Wenn ich das linke Auge zuhielt, sah ich mit dem rechten nur noch schwer zu entziffernde Wörter in Schlangenlinien. Also entschloss ich mich zu einer Operation, die zwei Jahre nach der Erstdiagnose stattfand. Die Professorin meinte, mein erster Arzt habe die Erfolgsaussichten einer Operation zu negativ eingeschätzt. Aber einen Prozentsatz für die Erfolgschancen wollte sie mir nicht nennen. Sie fügte nur hinzu, dass es oft ein halbes Jahr oder länger dauern könne, bis man den Effekt merke, und meist werde noch eine zweite, kleinere Operation notwendig.
Ein halbes Jahr später, am Heiligabend, stand ich am Gabentisch direkt unter einer Lampe und hielt eine Weihnachtskarte meiner Freundin in der Hand. Ich hatte die Lesebrille vergessen und war überrascht, dass ich bei hellem Licht mit dem operierten Auge sogar ohne Brille lesen konnte. Eine schöne Weihnachtsüberraschung! Die Ärzte nennen meine Art, wie ich heute sehe, »Monovision« oder »Goethe-Blick«: Mit dem linken Auge sehe ich fern gut, mit dem rechten nahe gut, beide ergänzen sich also.
Auf Probleme reagiere ich gewohnheitsmäßig so, dass ich mich mit der Frage auseinandersetze, was im schlimmsten Fall passieren könnte. Dann versuche ich, das Positive an der Sache zu sehen. Positiv ist jedenfalls, dass Sie dieses Buch sonst nicht in den Händen hielten, denn ich hätte es ohne meine Krankheit nicht geschrieben. Ich begann jetzt, Bücher über Menschen mit einer Sehbehinderung bzw. über Blinde zu lesen – unter anderem das tolle Buch von Saliya Kahawatte »Blind Date mit dem Leben«. Ich hätte diesen außergewöhnlichen Menschen, der das Vorwort zu diesem Buch geschrieben hat, sonst nicht kennengelernt.
Inspiriert durch sein Buch begann ich, mich mit anderen erfolgreichen Menschen zu beschäftigen, die eine Behinderung hatten oder haben. Ich las mehrere Zehntausend Seiten Bücher sowie Berichte und Interviews über und mit behinderten Menschen und versuchte herauszufinden, was ihnen die Kraft gab, trotz ihrer Beeinträchtigungen aktiv und erfolgreich zu sein. Mit einigen konnte ich auch persönlich sprechen. In diesem Buch lesen Sie unter anderem über
- einen Bergsteiger, der als Blinder auf sieben Kontinenten die jeweils mächtigsten Gipfel erklomm, darunter auch den Mount Everest, den höchsten Berg der Welt;
- einen weltweit bekannten und erfolgreichen Galeristen, der blind war, als er seine erste Galerie eröffnete;
- den »Blind Traveller«, einen Engländer, der vor etwa 200 Jahren als Blinder mit nur wenig Geld ausgedehnte Reisen durch die ganze Welt unternahm, dabei 200 verschiedene Kulturen kennenlernte und eine Strecke zurücklegte, die länger ist als die Entfernung von der Erde zum Mond;
- Ludwig van Beethoven, der fast vollständig taub war, als er seine 9. Sinfonie komponierte;
- Vincent van Gogh, der seine berühmtesten Bilder malte, während er in der Psychiatrie saß;
- die Unternehmensgründerin Margarete Steiff, Produzentin des ersten Teddybären, die als Kleinkind an Kinderlähmung erkrankte und seitdem im Rollstuhl saß;
- Stephen Hawking, den Erforscher der Schwarzen Löcher und bekanntesten Wissenschaftler unserer Zeit;
- den Motivationsredner und Buchautor Nick Vujicic, der ohne Arme und Beine auf die Welt kam und in 63 Ländern viele Millionen Menschen mit seinen inspirierenden Reden erreichte;
- Helen Keller, die eineinhalb Jahre nach ihrer Geburt taubstumm und blind wurde und später eine weltweit erfolgreiche Schriftstellerin wurde;
- Ray Charles, den »Hohepriester des Soul«, der im Alter von sieben Jahren erblindete und einer der besten Sänger aller Zeiten wurde.
Das Buch enthält weitere Geschichten über insgesamt 20 bekannte und weniger bekannte Persönlichkeiten, die sich in vielerlei Hinsicht unterschieden, aber alle in ihrer jeweils eigenen Art Unglaubliches taten oder erreichten. Bewusst habe ich sowohl berühmte Personen wie Beethoven oder van Gogh porträtiert, aber auch solche, von denen die meisten Leser vermutlich noch nie etwas gehört haben – wie etwa den Historiker William Hickling Prescott oder die Leichtathletin Marla Runyan. Das, was diese Menschen geleistet haben, ist sehr unterschiedlich: Manche haben mit ihren Werken Geschichte geschrieben, andere waren weit davon entfernt. Aber selbst für jene, auf die Letzteres zutrifft – so etwa Christy Brown –, gilt, dass sie weit mehr aus den ihnen gegebenen Möglichkeiten gemacht haben, als die meisten Zeitgenossen ihnen zugetraut hätten.
Ich hoffe, dass dieses Buch Menschen mit Behinderung und Eltern von behinderten Kindern ermutigt. Aber es richtet sich vor allem an Menschen ohne Behinderung, denen ich zeigen möchte, dass widrige äußere Umstände nicht entscheidend sind, wenn wir die Kraft unseres Geistes verstehen, uns große Ziele setzen und …
Ich möchte nicht alle Geheimnisse schon jetzt verraten. Sie werden sie in jedem Kapitel selbst finden! Es ist eine große Schatztruhe voller verborgener Erkenntnisse, und ich würde Ihnen die Freude am Entdecken nehmen, wenn ich sie schon vorher verriete. Aber ich kann Ihnen versprechen, dass jedes Kapitel weit mehr als eine Aufzählung der wichtigsten Lebensstationen der porträtierten Persönlichkeit ist, sondern zudem Lektionen darüber enthält, was wir von diesen Menschen lernen können. Schreiben Sie selbst diese Lektionen heraus und denken Sie darüber nach, denken Sie sich mit diesen Erkenntnissen in den eigenen Erfolg!
Einen treffenden Titel und Untertitel für dieses Buch zu finden, der allen Porträtierten gerecht wird, war nicht einfach, weil die Begriffe »erfolgreich« und »Menschen mit Behinderung« Fragen hinterlassen:
Das Wort »Behinderte« weckt oft falsche Assoziationen, und man würde es für einige Menschen, die in diesem Buch porträtiert werden – so etwa für Frida Kahlo oder Vincent van Gogh – kaum verwenden. Das zeigt: Die Grenzen zwischen »Normalen«, »Gesunden« und »Behinderten« sind fließend, und niemand sollte auf seine Behinderung reduziert werden. Auch dies demonstrieren die Porträts der Akteure in diesem Buch, die in allererster Linie kreative, aktive und erfolgreiche Menschen sind. In zweiter Linie sind sie Menschen, die in verschiedener Weise eingeschränkt waren oder sind. Und »normal« zu sein, ist ohnehin nicht für jeden erstrebenswert. Erstrebenswert ist es aus meiner Sicht, ein erfülltes, kreatives, bemerkenswertes, aufregendes, inspirierendes Leben zu leben, in dem man im besten Fall etwas für die Nachwelt hinterlässt.
Waren aber alle Akteure in diesem Buch »erfolgreich«? Das kommt darauf an, wie Sie Erfolg definieren. Alle haben etwas geleistet, was ungewöhnlich und überdurchschnittlich ist. Bei manchen ist es unklar, ob man von »erfolgreich« sprechen kann. Das gilt beispielsweise für den genialen Mathematiker John Forbes Nash Jr. Er erhielt zwar 1994 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften und wurde als Mathematiker für einige grundlegende Entdeckungen berühmt, aber er verbrachte viele Jahre seines Lebens in Einsamkeit und in der Psychiatrie und war in diesen Zeiten sehr unglücklich. Ray Charles oder Stevie Wonder dagegen führten ein erfülltes und glückliches Leben. Versteht man unter einem erfolgreichen auch ein überwiegend »schönes« Leben, dann ist also der Begriff des »Erfolges« für manch ein diesem Buch porträtierten Personen zu relativieren. Das trifft besonders für jene zu, die psychisch erkrankten (van Gogh und Nash), aber auch für jemanden wie den Schriftsteller Christy Brown, der seine schriftstellerische Karriere und sein Leben schließlich durch Alkohol ruinierte.
Was die Menschen, die in diesem Buch porträtiert werden, verbindet, ist, dass sie nicht aufgaben, selbst unter größten Schwierigkeiten. Dies gilt beispielsweise für den Schauspieler Michael J. Fox, der an Parkinson erkrankte, oder für den renommierten amerikanischen Geschichtswissenschaftler William Hickling Prescott, der sein Leben lang mit einer schweren Augenerkrankung kämpfen musste.
Wenn Sie das Leben erfolgreicher Menschen analysieren, dann werden Sie feststellen, dass die meisten Erfolgreichen – so wie alle anderen auch – Handicaps haben, die sie als Gründe vorbringen könnten, wären sie gescheitert. Der eine kommt aus schwierigen sozialen Verhältnissen, der andere steht im Schatten eines erfolgreichen Vaters, der nächste hat einen Migrationshintergrund oder keine gute Schulbildung. Manche fühlen sich zu jung für eine große Karriere, andere fühlen sich zu alt, um neu zu starten. In den Jahrzehnten, in denen ich mich mit erfolgreichen Menschen befasse, habe ich festgestellt, dass Erfolgsmenschen niemals ihre wirklichen oder vermeintlichen Nachteile als Ausreden anführten. Und genau dies trifft auch für die Menschen mit Behinderung zu, die ich in diesem Buch porträtiere.
Heute fühlen sich viele Menschen als Opfer: Opfer der Gesellschaft, Opfer von Benachteiligung oder Diskriminierung, Opfer widriger Umstände. Die Menschen in diesem Buch haben sich nie als Opfer gesehen. Sie wollten auch kein Mitleid. Sie sahen sich als Gestalter ihres eigenen Schicksals und glaubten daran, dass sie Dinge erreichen konnten, die selbst die meisten Menschen ohne Behinderung niemals erreichen würden. Was glauben Sie, was Sie alles erreichen können, wenn Sie diese Kraft kennen und nutzen lernen, die es diesen Persönlichkeiten ermöglichte, Unglaubliches zu tun?
Man sagt oft, Gesundheit sei das Wichtigste im Leben, und ich selbst habe diesen Satz auch manchmal gedankenlos gesagt und daran geglaubt. Bis ich anfing, mich mit den Menschen zu beschäftigen, über die Sie in diesem Buch lesen. Als ich die Biografie von Ray Charles las, fand ich Trost darin: Selbst, wenn ich blind werden würde – was in meinem Fall extrem unwahrscheinlich ist – oder nicht mehr lesen könnte, dann könnte ich ein glückliches, kreatives Leben leben. Denn Gesundheit ist zwar wichtig, aber wichtiger noch ist unsere innere Einstellung, und wichtiger ist, dass wir die verborgenen Kräfte kennenlernen, die in uns liegen.
Bedanken möchte ich mich vor allem bei Erik Weihenmayer, Felix Klieser und Johann König, die mir Fragen zu ihrem Leben beantwortet haben, und bei Saliya Kahawatte dafür, dass er trotz eines eigenen Buchprojektes Zeit für das Vorwort fand. Danken möchte ich auch dem Beethoven-Experten Professor Matthias Henke, den Van-Gogh-Experten Professor Uwe M. Schneede und Professor Manfred Clemenz sowie der Frida-Kahlo-Biografin Dr. Karen Genschow, die die entsprechenden Kapitel des Buches gelesen haben. Für Anregungen und Zuspruch danke ich auch meinen Freunden Dr. Gerd Kommer, Dr. Helmut Knepel, Oliver Luksic, Professor Hermann Simon, Dieter Nuhr und Jürgen Michael Schick. Und zuletzt gebührt mein Dank meinem Freund Ansgar Graw, der auch dieses Buch lektoriert hat.
Rainer Zitelmann, März 2021
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